Das Waldreich und sein Herrscher
Nahe der Waldlichtung kletterte ein Streifenhörnchen den Eichenbaum hinab. Die Wintervorräte, die es gesammelt hatte, waren beinahe alle aufgebraucht. Jaromir klopfte den staubig alten Teppich, den er von seiner Großkusine geschenkt bekommen hatte, ab und gedachte gleichsam dem Streifenhörnchen.
Warum waren die Menschen heutzutage nur so garstig zu den Waldbewohnern? Mehrfach hatte Jaromir erlebt, wie zwei Knaben ihn verärgert hatten, indem sie mit bösem Herze die Waldpflanzen aus dem sumpfigen Boden rupften, Vogelnester hinabstießen und dann auf ihnen herumtrampelten. Wenig war von Jaromirs stolzem Laubwald übrig geblieben. Über die Jahrhunderte hatte man wieder und wieder Bäume gerodet, dichte Wohnsiedlungen stattdessen gebaut und Abfälle jeglicher Art im Wald entsorgt. Viele schlimme Dinge hatten die stummen Zeugen der Zeit schon gesehen, doch scheinbar wurde die Welt immer mehr erfüllt von respektlosen Menschen, die den Mühsal Ihresgleichen nicht zu schätzen wussten.
Noch hatten sie seine tief im Wald verborgene Hütte nicht gefunden – doch schon jetzt plünderten diese Menschen alles was in ihren Augen nützlich zu sein vermochte. Er entschloss, dem König Karl persönlich entgegentreten und zu verlangen, dass er mit diesen Schandtaten aufhören musste. Viele Jahrzehnte hatte er sich das schon vorgenommen, doch – wie Gnome eben sind – war er einfach zu faul gewesen den langen Weg zur Burg anzutreten. Hach, er war ganz und gar nicht darauf erpicht die Handelswege entlang zu gehen und womöglich noch auf Menschen zu treffen und bei seiner Verwandtschaft war er seit vierzehn Jahrhunderten schon ausgestoßen worden.
Die stolze Elster
Mirabella näherte sich dem Holunderbusch neben der Holztür und
spähte vorsichtig durch die dunkelgrün gerahmten Fenster. Eine kleine Glühbirne beleuchtete den Mahagonischreibtisch, auf dem blaue Zettel und Kugelschreiber ungleichmäßig verteilt lagen. Eine lange, kastanienrote Strähne fiel ihr ins Gesicht, als sie Schritte einer männlichen Person hörte. Vorsichtig lehnte sie sich an die Wand und verfolgte mit achtsamen Augen den späten Gast.
Die Klingel schrillte durch das leere Haus und nach einigen Minuten verließ der Gast wieder das Grundstück. Vorsichtig zog sie einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche und schloss damit leise die Haustür auf.
Nachdem Mirabella alle Schubladen durchwühlt hatte, fiel ihr Blick auf einen kleinen Gegenstand in der anderen Ecke des Raumes. Wie konnte sie dieses Amulett übersehen haben? Wie schön funkelte das juwelenbesetzte Medaillon in ihren Fingern. Vorsichtig zog sie ein altes, dunkelbraunes Samtsäckchen aus ihrer nachtschwarzen Ledertasche, um das wertvolle Fundstück sicher zu verstauen. Als nächstes konzentrierte sie sich wieder auf ihre ursprüngliche Aufgabe.
Wo hatte er nur die Unterlagen zu den Ausgrabungen in dem Dornenwald versteckt? Ohne Rücksicht warf sie alles Unbrauchbare durch die Luft, ließ es auf den Boden
fallen und wandte sich dann dem Eichenschrank zu. Auch hier war nichts zu finden.
Bewegungslos atmete sie still, bis ihr eine Idee in den Sinn kam. Dann legte sie sich auf den Boden und beobachtete die Lampe. Ludovic, der Idiot, hatte jedem erzählt von der These der magischen Wirkung der Gestirne. Er appellierte an jeden, dass er jegliches Licht als philosophischen Höhepunkt des Lebens sah. Tatsächlich prangten auf der Deckenlampe im Raum eine Mondsichel und viele Sterne. Im Inneren befand sich keine Glühbirne, sondern eine seltsam anmutende Konstruktion, die scheinbar weder auf Strom, noch auf andere Arten von Energien angewiesen war.
Im Lampenschirm, neben dieser Konstruktion, befanden sich kleine lose Blätter. Die Schrift war so winzig, dass sie mit bloßem Auge nicht zu lesen gewesen wäre. Eilig fügte sie die Blätter zu ihrer Sammlung hinzu. Plötzlich hörte sie das Knacken eines Schlüssels im Schloß. In einem Ruck riss sie das Fenster auf und kletterte hinaus.
Pierre Ludovic betrat ungestüm das Büro seines Bruders: „Phelan, wie konntest du nur zulassen, dass die echten Unterlagen unseres Projektes gestohlen wurden! Du hast behauptet, du hättest sie sicher versteckt und die gefälschten Dokumente für den Dieb auf den Tisch gelegt. Und was ist mit dem Amulett? Hast du es endlich verkauft oder befindet es sich noch immer in unserem Besitz?“
Lässig stützte sich Phelan auf dem Schreibtisch ab. Gleichsam gelassen präsentierte er Pierre seine Antwort: „Wir haben mit nur einem Dieb gerechnet. Tatsächlich sind genau zwei Personen unabhängig voneinander eingebrochen. Alle Papiere wurden gestohlen – also auch die falschen. Das Amulett wurde entwendet. Wir sollten froh sein, dass es nicht mehr in unserem Besitz ist. – Kein Problem, mein Brüderchen! Wer das Amulett stiehlt, wird sicher glauben, dass es eine Schlüsselrolle zum Schatzfund spielt. Derjenige wird zurück nach Dornenwald kehren und nach dem Schatz graben!“
Wutentbrannt tobte Pierre durch den kleinen Büroraum: „Wir hätten ordentlich Geld dafür bekommen. Das wäre ein gutes finanzielles Pflaster für unser bisherigen Ausgaben. Sei froh, dass der Orden bereits einen Verdächtigen verfolgt!“
„Dito. Du kannst froh sein, dass du nur rein zufällig auf den Fund gestoßen bist, als du diese hässlich monotone Wohnhaussiedlung dort errichten wolltest!“ Desinteressiert ignorierte er seinen Bruder und widmete sich wieder den archäologischen Daten zur Auswertung.
Das Nest der Diebesbrut
Mit müden Augen verließ Mirabella das Appartement. Noch in der
Nacht hatte sie an ihren Kunden die gewünschten Objekte weitervermittelt. Das Amulett hatte sie nicht erwähnt. Wahrscheinlich würde sie es für sehr viel Geld auf dem Schwarzmarkt verkaufen – aber zunächst wollte sie selbst das Amulett untersuchen.
Schäbig und heruntergekommen sah das Haus aus, welches sie aufzusuchen gedachte. Nachdem sie dreimal an der Tür geklopft hatte, öffnete ein älterer, klein gewachsener Mann mit sorgfältig gekämmten grauen Haaren die Tür und begrüßte sie freundlich. „Mademoiselle Andante, welch Überraschung! Tretet ein!“ Während er sie durch die Tür gehen ließ, nahm er ihr den Mantel ab und hängte ihn auf die nebenbestehende Garderobe. „Da wird sich Meister Zwirnhut aber freuen! Ich werde Sie ihm sogleich melden. Wartet nur kurz hier!“
Flink wie ein Wiesel huschte er fort und es dauerte keine Minute, da war Magister Zwirnhut zugegen. Überschwänglich umarmte Mirabella den jungen, chaotischen Herren mit dem wirr abstehenden bronzefarbenen Haar und der schwarzen Brille. Zwirnhut zählte zu den hochgewachsenen und sympathischen Männern der Zigeunerfamilie. Zudem hatte er eine der besten Ausbildungen – allerdings inoffiziell – genossen. Zweifellos war er eines der wenigen Universaltalente. Seine Mutter Irmgard war die Tante von Mirabellas Mutter Sophia. Weil Wolf Zwirnhut dieses große Unternehmen leitete, das ihm sein einstiger kinderloser Mentor Sandelkern vererbt hatte, war er der einzige seiner Familie, der hier sesshaft geworden war. Zwischen Mirabella und Wolf hatte sich schon früh eine große Freundschaft entwickelt, die täglich wuchs und so hatte er ihr alles gelehrt, was er selbst gelernt hatte. Beide waren nun hochrangige Mitglieder der Diebesgilde.
„Mirabella! Wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben? Ich habe in Fachkreisen gehört, dass es dir gelungen ist, die geheimen Unterlagen der Ludo Corp entwendet hast. Ich habe gehört, dass ein wertvolles Amulett geraubt wurde. Hast du etwas für mich mitgebracht, Mira?“
Mit einem Lächeln auf den Lippen erzählte sie überaus enthusiastisch davon: „In den Dokumenten, die ich stehlen sollte, steht nicht Weltbedeutendes. Tatsächlich habe ich ein Amulett gefunden. Ich möchte gern, dass du mir den Wert des Objektes bestimmst. Wahrscheinlich werde ich es verkaufen. Was meinst du?“
Achtsam überreichte sie ihm das Säckchen mit dem Medaillon. Mit spitzen, leicht geöffneten Augen betrachte er sein Objekt der Begierde unter dem Mikroskop. Dann setzte er zu einer Antwort an: „ Meine Güte! Wenn ich von der Existenz eines solchen Wertgegenstandes gewusst hätte, hätte ich es bereits gestohlen. Es ist perfekt gearbeitet. Ebenmäßig weich sind die Konturen herausgearbeitet worden. Dein Bruder Edward hat ein ähnliches Stück vor drei Tagen aus dem Eschwälder Hotel entwendet. Mir hat er erzählt, dass eine seltsame Anziehungskraft ihn beinahe dazu verleitet hätte das Schmuckstück zu behalten. Morgen wird er das Wertobjekt weiterverkaufen an Monsieur Bruno. Wir haben über sichere Quellen erfahren, dass ein gewisser Mertenbrink dann das Kunstwerk an Pierre Ludovic übergeben soll.
Wie du sicher schon weißt, ist Ludovic der Leiter der Forschungsarbeiten im nördlichen Dornenwald. Es muss also irgendeine Brücke zwischen diesen beiden Stücken geben. Allerdings konnte ich bisher diesen Zusammenhang noch nicht erkennen. Es wird eine Weile dauern, sagen wir vierundzwanzig Stunden, bis ich Näheres sagen kann.“
Routiniert legte er das Amulett in eine schmale, metallische Hülle. Daraufhin erschienen auf seinem pyramidenförmigen Monitor blaue Zahlen und Buchstaben und eine sich stetig drehende dreidimensionale Ansicht. Dann gab er ihr einen blauen Zettel und verschwand im Nebenzimmer.
– Fortsetzung folgt –
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