Loewe & Hertz

Löwenherz

Mein Herz schlug so gewaltig, dass ich glaubte, jeden Moment bewusstlos zusammenzubrechen. Doch ich war noch nicht soweit. Noch würde ich nicht aufgeben. Und wenn es das letzte war, das ich tat. Gleich hatten sie mich erreicht. Ich spürte einen unsanften Schlag auf den Hinterkopf – noch während ich mich nach hinten meinen Verfolgern zugewandt hatte. Dieses Mal breitete sich echte Schwäche in mir aus. Meine Glieder wurden schwer und mir wurde schwarz vor Augen. Es war ein hässliches Gefühl der Ohnmacht. Als ich aufwachte, war ich allein. Zumindest dachte ich das. Überall sah ich nur karge, verfallene Mauern. Mein Kopf erholte sich langsam von den Strapazen.

Als ich aufwachte, bemerkte ich, dass ich mich nicht mehr frei bewegen konnte. Meine Beine waren zusammengeknotet und meine Hände hingen an einem ziemlich unbequemen Holzstuhl fest. Der Druck auf meine Armgelenke war am unangenehmsten. Er überlagerte die Kopfschmerzen, die bereits am abklingen waren. Der Schmerz in meinen Armen schien zu explodieren. Gerade, als ich befand, dass ich die Schmerzen nicht mehr aushalten könne, hörte ich eine warme, tiefe Stimme.
„Es ist zwecklos zu fliehen. Sie werden ohnehin bald da sein.“
Die Stimme kam mir bekannt vor. „Was zum … ! “ Ein ungewolltes Keuchen entrang sich mir. „Könntest du mir bitte die Fesseln etwas lockern! Meine Hände sind schon ganz blau und fallen bestimmt gleich ab.“
Die Stimme näherte sich mir, aber ich konnte nicht sehen oder hören von woher. „Wenn das ein Trick ist, wirst du es bitter bereuen!“ Das war ganz nah. So nah, dass ich das Vibrieren des Klangs wahrnehmen konnte. Seine Hände waren sanft und rau zugleich. Geschickt weitete er den Strick um meine Hände – ohne dabei zu locker zu lassen und mir auch nur eine Chance zur Freiheit zu lassen. Meine Hände zitterten bei seinen Berührungen. Ich konnte mir nicht erklären warum. Vermutlich war es die Angst, die sich in mir immer ausbreitete. Sie hatten mich doch erwischt. Die Gewissheit war quälend. Zumal ich wusste, dass ich das nicht überleben würde. Erst würden sie mich foltern und wenn sie mich nicht mehr brauchten, dann würden sie sich meiner entledigen.

Plötzlich stand er neben mir, so dass ich ihn sehen konnte. Mein Herz blieb stehen. Nicht vor Furcht, wie es eigentlich hätte logisch sein müssen. Vor mir stand ein Mann, den ich die letzten Monate immer heimlich beobachtet hatte. Oft war er mir an der Kreuzung zum meinem Lieblingscafé begegnet. Wobei begegnen nicht das richtige Wort war. Es war zufällige Aufeinandertreffen und er hatte mich nicht eines Blickes gewürdigt. Gott, wie ich ihn angehimmelt hatte. Er hatte eine geheimnisvolle Ausstrahlung gehabt und das hatte mir auf Anhieb gefallen. Seine hellen Haare war relativ kurz, aber lang genug , um strubbelig in alle Ecken ab zu stehen. Er trug einen Dreitagebart, was ich besonders anziehend fand. Er wirkte männlich und bestimmt. Mister Geheimnisvoll würde garantiert niemals zögern. Wenn er sich etwas vornahm, kam er garantiert nie davon ab. Und das würde mir jetzt zum Verhängnis werden. Das Bizarre daran war, dass ich meinen Henker verliebt anstarrte, anstatt in in Angstgewimmer und Flehen zu verfallen. Was stimmte nur mit mir nicht? Wie blöd musste man eigentlich sein, um seinem zukünftigen Tod zu zu lächeln, so wie es es grad tat. Ja, es war unglaublich! Ich lächelte ihn an! Als ob er gerade in Flirtlaune gewesen wäre! Sein Blick wurde noch ernster. Dabei hatte ich vermutet, dass er nicht noch ernster hätte schauen können. Seine Kiefer spannte sich merklich an. Auch mein Lächeln erlosch jetzt endlich. Ich dumme Kuh! Vielleicht war das jedoch auch einfach eine Schockreaktion oder eine Reaktion von Nervosität. Als ich einmal in einer Zeitschrift für Psychologie geblättert hatte, hatte ich gelesen, dass man aus Unsicherheit ziemlich dämlich grinsen konnte. Bestimmt sah ich genauso dämlich aus. Meine Güte, wie konnte ich nur so naiv sein? Ich wusste, doch was auf dem Spiel stand. Durch einige ungünstige Zufälle war ich an Informationen gelangt, gefährliche Informationen, die nicht für mich bestimmt waren. Tja, das hatte ich nun von meiner Neugier. Immer musste ich mich in andere Gelegenheiten einmischen. Ja, ich war eine richtige Klatschtante. Es gab nichts und niemand, der vor mir sicher war. Deswegen zogen mich so mysteriöse Persönlichkeiten wie Mister Geheimnisvoll magisch an. – Und das war jetzt mein Verhängnis!
Wieder warf ich einen verstohlenen Blick auf ihn und ertappte ihn dabei, wie er mich analysierte. Augenblicklich wandte er sich einer Armatur auf dem Tisch zu. Sie sah kompliziert aus. Wie ein Plan oder technische Ausführung eines speziellen Gerätes. Genaueres konnte ich nicht erkennen, da ich nur ein begrenztes Blickfeld darauf hatte. Konzentriert blickte er darauf, als ob es sich selbstständig verändert würde.

Meine Tante Agatha hatte mir einmal erzählt, dass es Menschen gab, die nach außen hin Stärke repräsentierten, im Inneren jedoch leicht zu beeindrucken waren. Zwar zweifelte ich, dass Mister Geheimnisvoll zu jenen Personen zählte, dennoch würde ich nichts unversucht lassen, meinen bevorstehenden Peinigungen zu entgehen. Ich musste eine Art Vertrauensebene aufbauen. Etwas, das nur möglich war, solange keine anderen im Raum waren.
Denk nach, Isobel, denk nach! Wie konnte man jemanden in ein Gespräch verwickeln? Es war doch nichts anderes als Small Talk, oder? Oder gab es nur solche knallharten Themen wie z.B. wie pflege ich meine Waffen oder was ist der effizienteste Weg jemanden auszulöschen oder zu verfolgen? Verdammt, ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Zumal er mich nicht einen Moment aus den Augen ließ. Es musste doch irgendetwas geben, IRGENDETWAS! „Wie kommt man eigentlich zu einem Job?“ Platzte es aus mir heraus. Schon jetzt schämte ich mich für diese dumme Frage!
Kurz wandte er sich mir zu und ignorierte mich dann weiter. Das konnte er wirklich unglaublich gut – und das trieb mich ein wenig zur Weißglut. Schweigsame Menschen waren wirklich schwer zum Plaudern zu animieren. Aus denen bekam man meist nie ein Geheimnis heraus. Das mochte ich noch nie. Man konnte Fragen um Fragen stellen, erhielt aber nie eine brauchbare Antwort. Toll, dachte ich mir, der wird nie und nimmer auf meine Fragen eingehen. Also konnte ich mich schon mal mit meinem Schicksal anfreunden. „Wie lange dauert es, bis deine Freunde da sein werden? Damit ich weiß, wie viel Zeit mir noch zum Leben bleibt.“
Mister Geheimnisvoll zog eine Augenbrauen hoch, als er mich musterte. Das war seine einzige Reaktion. Was für ein Mistkerl!
Gut, dann eben die nervige Taktik! Ich würde ihn solange mit Fragen löchern, bis er mir antwortete.
„Wow, du musst dir höllisch toll vorkommen arme hilflose Frauen, die auf der Flucht sind, nieder zu schlagen und zu entführen. Wahnsinn, dafür gibt’s garantiert eine Eins mit Bienchen in dein Muttiheft. Wie wird man eigentlich so rücksichtslos? Hat dir jemand dein Frühstücksmüsli geklaut? Oder hast du einfach schon als Kleinkind gern Schwächere ausgenommen? Das ist wohl ein wahnsinniger Schub für dein Ego. Dann kannst du deinen Freunden erzählen, dass du nicht mehr nur alten Frauen Handtaschen klaust, sondern dass du jetzt auch noch Leute vermöbelst, die sich mindestens genauso wenig wehren können.. Gehst du eigentlich auch auf Behinderte? Wetten, dass du dich nicht trauen würdest, dich mit jemandem von deinem Kaliber anzulegen…“
Das erste Mal in meinem Leben teilte ich richtig aus. Es war erstaunlich befreiend. So setzte ich meine Tiraden weiter fort. „Führst du eigentlich eine Strichliste mit entführten Frauen. Wie viele hast du denn schon entführt? Hast du eigentlich so etwas wie ein Gewissen? Oder hattest du so etwas noch nie? Also ich tippe darauf, dass du die Bedeutung des Wortes gar nicht kennst. Eigentlich ist es erstaunlich, dass sie dich dafür nicht ins Irrenhaus gesteckt haben. Denn Leute wie du, ihr, gehört doch eigentlich dort hin. Wer vergreift sich schon an den Hilfslosen?“ Gespielt rollte ich mit den Augen, um dann weiter fortzufahren. „Wahrscheinlich seid ihr in Wahrheit eine Selbsthilfegruppe, die es nicht geschafft, mit der Realität klar zu kommen.“
„Wenn du es wirklich wissen willst, …“ Mister Geheimnisvoll stand jetzt direkt vor mir. „Du warst die Erste, die es uns wirklich einfach gemacht hat. Zu vorhersehbar. Ich war ja der Meinung, dass du ohnehin nicht lange überleben würdest. Schließlich bringst du dich selbst ständig in Gefahr. Du hattest die Wahl…“
Das war nicht sein Ernst, oder doch? Sicher war ich besonders neugierig, aber konnte Neugier wirklich tödlich sein? Andererseits kannte ich die Antwort bereits. Denn ich saß hier, gefesselt in einem alten verlassenen Lagerhaus. Hier würde mich niemand schreien hören.
„Wie krank muss man sein, um jemanden fest zuhalten und diesen dann in aller Seelenruhe umzubringen?“
„Man könnte es natürliche Selektion nennen.“ Er sagte das mit einer eiskalten Art und Weise, als würde ihn das alles nichts angehen.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich ihn so nicht aus der Reserve locken konnte. Eher würde ich mein Todesurteil unterschreiben. Eigentlich wollte ich fragen, ob er das auch bei jemandem konnte, der ihn offensichtlich mochte – und damit meinte ich natürlich mich. Allerdings kam mir das albern vor und ich beschloss, es nicht mir Worten sondern mit Taten zu sagen. Er war jetzt so nah, dass ich seinen Atem fühlen konnte. Hockend saß er vor mir in Augenhöhe. Das war meine Gelegenheit. Solange die anderen noch nicht da waren, musste ich handeln. Dann geschah es einfach. Ich brauchte nichts zu tun. Es war eine Art Reflex, wenn ich ihm zu nahe kam. Ich fixierte seine bernsteinfarbenen Augen, die umrahmt waren von den dichten dunklen Wimpern. Die Entfernung schwand mehr und mehr. Seine blassen Lippen waren so nah, dass ich ihre ausgehende Wärme spürte. Wie ein magnetisches Band zog er mich an. Er zögerte, blieb noch unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Doch ich duldete dieses Zögern nicht mehr. Es ging um alles oder nichts. Als ich seine Lippen schmeckte, schloss ich unwillkürlich meine Augen und genoss das Schauspiel, dass sich mir bot. Seine Hand wanderte in meinen Nacken und er zog mich näher an mich heran. Jetzt keimte seine Gier auf. Er nahm mich in seinen Besitz, kostete meinen Kuss voll aus. Sofort bekam ich weiche Knie. Wenn ich nicht gefesselt gewesen wäre, wäre ich in seinen Armen weich geworden. Es war ein langer, verlangender Kuss. Einer von der Sorte, der einem klar zeigen sollte, wer hier wem gehörte. Und Mister Geheimnisvoll hatte ganz klar seinen Besitzansprüche angedeutet. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich seinen verwunderten Blick. Auch ich war nicht weniger verwirrt. Was hatte das zu bedeuten?

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1 Kommentar auf “Loewe & Hertz
  1. Heilöchen 🙂
    die Geschichte liest sich wunderbar, die Handlung ist klasse.:) Genau solche Situationen liebe ich in Geschichten ( ist kein Witz :))

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